Urbane Räume in der Vormoderne

Organisatoren
Forum Mittelalter, Universität Regensburg; Jörg Oberste, Institut für Geschichte, Universität Regensburg
Ort
Regensburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2008 - 15.11.2008
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Von
Susanne Ehrich, Universität Regensburg

Die internationale Jahrestagung des Forums Mittelalter der Universität Regensburg versammelte auch in diesem November wieder Mediävisten aus mehreren europäischen Ländern und unterschiedlichen Fachdisziplinen in der Donaustadt, um unter dem Titel „Urbane Räume in der Vormoderne“ Themen der interdisziplinären Städteforschung zu diskutieren. Die Tagung im historischen Runtingersaal der Stadt Regensburg (13.-15.11.08) sollte dem Forum Mittelalter zur Schärfung des eigenen, auf die kulturelle Dynamik des städtischen Raumes fokussierten Forschungsprofils dienen und überdies den wissenschaftlichen Nachwuchs stärker in aktuelle Forschungszusammenhänge einbinden. Die Veranstaltung wurde von der Stadt Regensburg und der Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth gefördert und soll in einem Tagungsband dokumentiert werden.

Im Vorfeld der Tagung wurde zum dritten Mal in Folge ein interdisziplinärer Doktoranden-Workshop „Junge Städteforschung“ veranstaltet, zu dem diesmal sechs Nachwuchswissenschaftler/innen eingeladen waren. Doris Bulach (München), Michael Dengler (Konstanz), Rebecca Saskia Knapp (München), Irina Redkova (Moskau), Daniel Stracke (Münster) und Tim Urban (Karlsruhe) stellten ihre in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städteforschung angesiedelten Promotionsprojekte vor, die anschließend im Plenum diskutiert wurden. Aus den bisher veranstalteten Workshops soll ein von den TeilnehmerInnen selbst getragenes Nachwuchsnetzwerk „Junge Städteforschung“ hervorgehen, welches zukünftige Kolloquien und Workshops eigenständig (unterstützt durch das Forum Mittelalter) organisiert.

Die Jahrestagung wurde am Abend des ersten Veranstaltungstages durch den Sprecher und Organisator der Tagung, Jörg Oberste, eröffnet. Der Regensburger Geschichtsprofessor betonte die besondere Relevanz des spatial turn für die vergleichende, interdisziplinäre und historische Städteforschung und den hohen analytischen Wert der räumlichen Perspektive für das Untersuchungsfeld ‚Stadt‘: Die Tagungsbeiträge, die den Stadtraum in unterschiedlichen Reichweiten in den Blick nähmen, spiegelten die enorme Konstruktivität dieses aktuellen methodischen Zugangs.

Am Beginn des wissenschaftlichen Programms stand der feierliche Eröffnungsvortrag von EDITH FEISTNER (Ältere deutsche Literatur, Universität Regensburg) zum Thema „Raumgreifende Repräsentation. Zum Prozessionale des Reichsstifts Obermünster von 1567“. In ihrem Vortrag lud Feistner dazu ein, die Prozessionswege der Obermünsterer Stiftsdamen durch das frühneuzeitliche Regensburg nachzuvollziehen und erschloss die symbolträchtigen bis politischen Perspektiven dieser Aneignung des Stadtraumes. Das Referat wurde von einem Ensemble musikalisch begleitet, das zu diesem Anlass das Osterspiel aus dem Prozessionale von Obermünster übertragen und einstudiert hatte.

Die erste Sektion versammelte Vorträge zu „Kommunikationsräumen, Erinnerungsräumen und virtuellen Räumen (in) der Stadt“. Ausgangspunkt des ersten Referats von MARIA SELIG (Romanische Sprachwissenschaft, Universität Regensburg) war die Beobachtung, dass die Kommunikation in der mittelalterlichen Stadt nur selten von den zeitgenössischen Intellektuellen thematisiert und analysiert worden sei. In der Stadt habe es keine zentralisierte und personalisierte Kommunikationssituation gegeben, wie sie am oft untersuchten frühneuzeitlichen Hofe herrschte. Hier blieben Situationen der Entscheidungsfindung, der Konfliktbewältigung, der Repräsentation sozialer Hierarchien aus der alltäglichen Interaktion ausgelagert und würden mit Interaktionsformen bewältigt, die klar und eindeutig dem Bereich der „kommunikativen Distanz“ (Peter Koch/Wulf Oesterreicher) zuzuordnen seien. Der in der anschließenden Diskussion postulierten Nähe als Verbindlichkeit schaffendem Faktor in der Stadt entsprächen nach Selig eher inszenierte Formen der Beteiligung und Partizipation, die den grundsätzlichen Charakter der kommunikativen Distanz nicht berührten. Anschließend untersuchte GUNNAR MIKOSCH (Mittelalterliche Geschichte, Universität Basel), wie jüdische Räume in den mittelalterlichen ashkenasischen Städten über Architektur, Bilder, Zeichen und Codes konstituiert wurden und damit den dicht besiedelten urbanen Binnenraum strukturierten. Programmatische jüdische Handschriften, wie der Sefer Chasidim, leiteten z.B. zur Herstellung eines orthodoxen jüdischen Raumes an, der nicht durch reale, sondern durch visuelle Abgrenzung geschaffen worden sei. Auch die viel beschworene Mauer um das jüdische Viertel sei weniger eine real funktionierende Abgrenzung als ein Zeichen der gedanklichen Distanzierung gewesen. So könne insgesamt der städtebaulich geschaffene Raum der mittelalterlichen Stadt zum semiotischen Raum werden, der den Macht- und Raumanspruch ihrer Urheber zum Ausdruck bringe.

Vom mit der Stadtraumthematik eng befassten Historischen Seminar in Basel kam auch ANJA RATHMANN-LUTZ (Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance), die den Beitrag der Historiographen zur Einheit Londons im späten Mittelalter erforscht. Dabei fragte sie nach der Materialität und „Ver-Ortbarkeit“ historischer Erinnerung in den London Chronicles des 15. Jahrhunderts und kam zu dem Schluss, dass das Interesse ihrer Verfasser vor allem in der „Entzeitlichung“ der Gebäude und Orte lag, um sie den jeweiligen Interessen dienstbar zu machen. Den Abschluss der Sektion bildete das Referat von INGRID BAUMGÄRTNER (Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel), die mit der Bedeutung Jerusalems in mittelalterlichen Kartenräumen gleichzeitig die zentrale Frage nach der Konstruktion von Zentralität beleuchtete. In den auf Jerusalem zentrierten Weltkarten erweise sich die heilige Stadt als eine Art multifunktionaler Knotenpunkt für die Erfassung von Zeit und Raum in einer göttlich und weltlich bestimmten Ordnung. Der Betrachter konnte durch das Erkennen thematischer, historischer und geographischer Bezüge eigene Erinnerungsräume schaffen, in denen Schrift- und Bildzeichen gleichsam als Gedächtnisstütze fungierten. So verschmolzen reales und geistiges, irdisches und himmlisches Jerusalem, Heilsgeschichte und Kreuzzugsideologie zu einem über den Stadtraum Jerusalem weit hinausweisenden Erzählraum. In der anschließenden Fragerunde wies Baumgärtner auf die im Vortrag nicht behandelte Rolle Roms auf mittelalterlichen Weltkarten, den so genannten Situs-Darstellungen, hin.

Die zweite Sektion zu „Städtelandschaften und städtischem Raum in Frankreich und am Oberrhein“ eröffnete RUDOLF FLOTZINGER (Musikwissenschaften, Universität Graz) mit einem Blick auf Paris als Schauplatz eines musikalischen Paradigmawechsels um 1210. Er kam zu dem Ergebnis, dass die zwischen Leonin und Perotin sichtbar gewordene, musikhistorische Kluft auf der Einführung der so genannten modalen Rhythmik und damit auf einem der wichtigsten Meilensteine in der abendländischen Musik beruhe. Dieser Paradigmawechsel sei in keiner anderen Stadt der Zeit vorstellbar und habe seine Verbreitung von diesem innovativen Zentrum aus angetreten.

JÖRG OBERSTE (Mittelalterliche Geschichte, Universität Regensburg) zeigte am Beispiel der Stadt Toulouse die Verdichtung der klösterlichen Topographie in einer früh- und hochmittelalterlichen Metropole auf. Bereits vor Ankunft der Mendikanten, deren seelsorgerische und soziale Bedeutung für die Stadt in der Forschung stark betont wurde, seien Klöster und Orden gerade in größeren Städten die Knotenpunkte für soziale, politische und religiös-kultische Prozesse gewesen, die sich durch ihre Präsenz und Konkurrenz tief in den urbanen Raum eingeschrieben hätten. FRANK G. HIRSCHMANN (Mittelalterliche Geschichte, Universität Trier) thematisierte die räumliche Durchdringung des Verduner Umlandes durch die Kathedralstadt vom 8. bis zum 15. Jahrhundert, wobei er wichtige Ergebnisse des dreibändigen, kommentierten Sammelwerkes zu den mittelalterlichen urbanen Zentren im Westen des Reiches und in Ostfrankreich referierte. Er ging dabei auf Markträume, Patrozinienpolitik, bürgerlichen und geistlichen Besitz, sowie die Instrumentalisierung des kanonischen Rechts ein.

GABRIEL ZEILINGER (Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Kiel) beschäftigte sich in dieser Sektion mit der (prä-)urbanen Entwicklung Colmars als Hauptort eines neuen zentralörtlichen Gefüges im Oberelsass (12.-14. Jahrhundert). Dabei fragte er sowohl nach den siedlungsgeschichtlichen und herrschaftlichen Ansatzpunkten der urbanen Entwicklung in deutlicher Entfernung zur alten Metropole Straßburg als auch nach den raumbildenden Faktoren einer entstehenden oberelsässischen Städtelandschaft innerhalb der übergeordneten Raumeinheiten „Elsass“ und „Oberrhein“. Der Vortrag erwies im Besonderen die analytische Qualität des Begriffs der Städtelandschaft, der auch asymmetrisch zu anderen räumlichen Differenzierungen gedacht und angewendet werden könne. Zum Abschluss der Sektion wurde der Aspekt der regionalen Vernetzung und Identitätskonstruktion von Städten vor dem Hintergrund kunsthistorisch fassbarer Stilkonventionen untersucht. BRUNO BOERNER (Kunstgeschichte, Technische Universität Dresden) nahm die spätmittelalterliche Skulpturenproduktion in oberrheinischen Metropolen wie Straßburg und Basel in den Blick und ging der Frage nach, in welcher Weise Gruppen von Skulpturen mit signifikanten Übereinstimmungen in räumlicher Konzentration auftreten. Boerner postulierte als Fazit eine kulturspezifisch integrative Funktion regionaler Stilkonventionen.

Der dritte Tag des Kolloquiums widmete sich dem Bereich der „sozialen, rechtlichen und ökonomischen Räume innerhalb von Städten und Städtelandschaften“. KARSTEN IGEL (Westfälische Landesgeschichte, Universität Münster) zeigte anhand westfälischer und im Ostseeraum gelegener Städte, wie sich soziale Strukturen in der städtischen Raumgestaltung abbilden. So sei zum Beispiel das topographische und bauliche Bild lübischer Städte ganz entscheidend von der spezifischen Auffassung einer auf Gleichheit bedachten Bürgerschaft geprägt. Soziale Baukontrolle bestimmte so Größe und Ort der Wohngebäude und ließ in Lübeck, Stralsund oder Greifswald unter anderem die häusliche Fassadengestaltung zum Kristallisationspunkt des bürgerlichen Repräsentationsverhaltens werden. KATALIN GÖNCZI (Sächsische Akademie der Wissenschaften, Leipzig) weitete den Blick vom städtischen Binnenraum auf den der rechtlich und kulturell konstituierten Städtelandschaft. Sie referierte über die Arbeit des Akademieprojekts „Das sächsisch-magdeburgische Recht in Osteuropa” und analysierte die Verbindungslinien dieser rechtshistorischen Tradition mit den Methoden des Rechtstransfers. Dabei wurde deutlich, dass die Geschichte der Städte zwischen Elbe und Dnepr wesentlich von dem Freiheiten und städtische Selbstverwaltung garantierenden Magdeburger Recht geprägt war und den stadtübergreifenden Zusammenhalt über eine „virtuelle Brücke“ sicherte. MARCO VENCATO (Mittelalterliche Geschichte, Universität Basel) widmete sich in seinem Referat dem aragonesischen Neapel im 15. Jahrhundert. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Kampf um das Stadtbild Neapels konkurrierende Raumaneignungsprozesse eine zentrale Rolle spielten, wurden die von den Stadtherren verantworteten Urbanisierungsprojekte durch die Analyse textlicher und ikonographischer Quellen neu in den Blick genommen. Der von König Ferrante geplante Abriss der Adelsportiken wurde vor diesem Hintergrund als programmatische „Raumkontrolle“ gedeutet, die mit den grotte oscure auch das revolutionäre Potential des Adels einebnen wollte. Mit der Herausstellung der Stadtplanungsdirektiven durch Ferrante (gittare li porticali e allargare le vie) hinterfragte der Vortrag somit auch den Vorreiterstatus von Sixtus IV. als renovator der Stadt Rom.

Am Ende der Tagung standen zwei Vorträge, die sich dem Themenbereich des Marktplatzes am Beispiel englischer Städte des Mittelalters annahmen. TERRY SLATER (School of Geography, University of Birmingham) erläuterte anhand der topographischen Struktur englischer Marktplätze auch deren wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Implikationen. Als Methode stand dabei eine vergleichende Stadtgrundrissanalyse im Mittelpunkt. Anknüpfend an die geographische Grundlegung von Terry Slater untersuchte JAMES DAVIS (Medieval History, Queen’s University Belfast) die symbolischen Strukturen ökonomischer Räume in englischen Städten des Mittelalters. Dabei bildeten die sich dichotomisch gegenüberstehenden Symbole von Pranger und Marktkreuz, das sich in Städten wie Salisbury, Malmesbury oder Chichester noch heute in der Stadtmitte befindet, das interpretative Spannungsfeld englischer Marktplätze.

Die Tagung „Urbane Räume in der Vormoderne“ stellte einen weiteren wichtigen Baustein innerhalb des Forschungsprofils der Regensburger Mediävisten dar, indem sie interdisziplinäre Zugänge zu der konstitutiven Komplexität und Dichte topographischer, institutioneller, sozialer, kultureller und symbolischer Strukturen in den Städten des Mittelalters eröffnete.

Konferenzübersicht:

Workshop

Doris Bulach (München)
Die Präsenz des Handwerks im städtischen Raum der südwestlichen Ostseeküste. Methodische Überlegungen

Michael Dengler (Konstanz)
Wo das wortt klingt, do ist Gott.“ Eine interaktionstheoretische Analyse lutherischer Sakralarchitektur am Beispiel der Regensburger Dreieinigkeitskirche

Rebecca Saskia Knapp (München)
Brandschutz und Feuerpolicey in Städten des 16. und 17. Jahrhunderts

Irina Redkova (Moskau)
Zum städtischen Bild in der Exegese des 12. Jahrhunderts (am Beispiel der Werke von Rupert von Deutz, Hugo von Folieto, Gottfried von Admont und Gerhoch von Reichersberg)

Daniel Stracke (Münster)
Die franziskanische Observanzbewegung des ausgehenden Mittelalters in Nordwestdeutschland (ca. 1450-1550). Träger – Förderer – Vernetzungen

Tim Urban (Karlsruhe)
Ort – Weg – Raum. Sakrale Topographie und visuelle Wahrnehmung Jerusalems im Spätmittelalter

Abendvortrag
Edith Feistner (Regensburg)
Raumgreifende Repräsentation: zum Prozessionale des Reichsstifts Obermünster von 1567

Sektion 1: Kommunikationsräume, Erinnerungsräume, virtuelle Räume (in) der Stadt

Maria Selig (Regensburg)
Die mittelalterliche Stadt als Kommunikationsraum

Gunnar Mikosch (Basel)
Zeichen, Bilder, Codes – Von realen und virtuellen jüdischen Räumen in der mittelalterlichen Stadt

Anja Rathmann-Lutz (Basel)
Erinnerungsraum und mentale Topographie – der Beitrag der Historiographen zur Einheit Londons im späten Mittelalter

Ingrid Baumgärtner (Kassel)
Kartieren von Vergangenheit: Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen

Sektion 2: Städtelandschaften und städtischer Raum in Frankreich und am Oberrhein

Rudolf Flotzinger (Graz)
Paris um 1210 – Schauplatz eines musikalischen Paradigmawechsels

Jörg Oberste (Regensburg)
Präsenz und Konkurrenz. Klösterliche Topographie und städtischer Raum in Toulouse vor Ankunft der Mendikanten

Frank G. Hirschmann (Trier)
Verdun – eine Stadt und ihr Umland (8.-15. Jahrhundert)

Gabriel Zeilinger (Kiel)
Urbane Entwicklung abseits der Kathedralstadt. Die Stadtwerdung Colmars und die Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis zum 14. Jahrhundert

Bruno Boerner (Dresden)
Spätmittelalterliche Skulptur in oberrheinischen Metropolen

Sektion 3: Soziale, rechtliche und ökonomische Räume

Karsten Igel (Münster)
Der städtische Raum als Spiegel sozialer Strukturen. Von Westfalen an die Ostsee

Katalin Gönczi (Magdeburg)
Städte des Magdeburger Rechts in Osteuropa

Marco Vencato (Basel)
Gittare li porticali e allargare le vie – Raumpolitik und Sozialtopographie im aragonesischen Neapel

Terry Slater (Birmingham)
Social, cultural and political space in English medieval market places

James Davis (Belfast)
The pillory and the cross: the symbolic structures of commercial space in medieval English towns